Totenkult und Jenseitsvorstellungen im alten Ägypten

Totenkult und Jenseitsvorstellungen im alten Ägypten
Totenkult und Jenseitsvorstellungen im alten Ägypten
 
Für die Ägypter war der Tod nicht das Ende, sondern eine Krise. Er hob die Gemeinschaft der verschiedenen Kräfte auf, deren Zusammenspiel einen lebendigen Organismus ausmacht, und löste den einzelnen aus seinen sozialen Bindungen, die ihn als Person bestimmen. Beide Symptomkomplexe glaubte der Ägypter erfolgreich handhaben zu können durch die vom Leben zum Tod geleitenden Übergangsriten der Einbalsamierung, Rechtfertigung und Beisetzung, die den Toten auf eine neue Existenzform als Person vorbereiteten.
 
Der Ägypter unterschied drei, zum Teil auch vier Seelen, die man Körperseele (s`ah), Vaterseele (Ka), Freiseele (Ba) und Lichtseele (Ach) nennen kann, sowie ein »Selbst«, als dessen Repräsentant das Herz galt. In allen diesen Formen wollte er weiterleben, wozu noch der »Name« und der »Schatten« kamen. Der Name war sogar besonders wichtig; fast möchte man ihn als »Sozialseele« den anderen Seelenbegriffen hinzufügen. Die Einbalsamierung galt der Überführung des Leichnams in eine machtvolle Körperseele, die »Mumie«. Wie in der Medizin kombinierte man auch hier technische und magische Verfahren. Die Eingeweide wurden aus dem Körper entfernt und in eigenen Gefäßen («Kanopen«) verwahrt, der Körper wurde mit konservierenden Substanzen und Amuletten präpariert und das ganze Verfahren von Rezitationen begleitet, die den Toten mit Zauberkraft aufladen sollten. Zum Abschluss der idealerweise 70 Tage dauernden Einbalsamierung wurde in der Nacht vor der Beisetzung eine Nachtwache abgehalten, die nach erfolgter körperlicher Wiederherstellung auch die soziale Wiedereingliederung des Toten bewirken sollte. Die Priester spielten die Rollen einer Göttergemeinschaft, in die der Tote eintrat. Die Särge wurden mit Darstellungen und Reden dieser Göttergemeinschaft dekoriert, um den Toten für immer in diese einzubetten. Im Rahmen der Nachtwache wurde auch das Totengericht inszeniert, vor dem sich nach ägyptischer Vorstellung jeder Tote für seine Lebensführung zu verantworten hatte. Alle Aufwendungen wären vergeblich gewesen, wenn der Tote an dieser Hürde scheiterte. Hier wurde das Herz, also das »Selbst«, der Persönlichkeitskern, auf einer Standwaage gegen ein Bild der Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit, Maat, abgewogen. Dazu hatte der Tote vor dem Gott Osiris und den Beisitzern eine Reinigungsbeichte abzulegen, indem er seine Unschuld hinsichtlich etwa 80 möglicher Sünden beteuerte. Im Fall einer Lüge, so wurde angenommen, würde das Herz auf der Waage sinken. Bestand der Tote die Prüfung, war er von allen Sünden frei und konnte an Leib und Seele rein ins Totenreich eingehen.
 
Der Weise führte sein Leben dem Totengericht vor Augen in der Sorge, seine Sündenfreiheit darzulegen, und im Streben nach einem guten Namen im Andenken der Lebenden. Es genügte nicht, sich ein Grab anzulegen und es mit seinem Namen, seinen Titeln und Taten zu beschriften; denn nicht nur vor dem Totengericht, sondern auch vor dem Tribunal der Nachwelt wusste man sich verantwortlich.
 
Nach abgeschlossener Mumifizierung und Rechtfertigung wurde der Tote im Sarg aufgebahrt und in feierlicher Prozession zu Grabe getragen. Sarg- und Grablegung wurden mit Rezitationen begleitet, die diesen Vorgang als Rückkehr in den Mutterleib ausdeuteten. Der Sarg galt als Erscheinungsform der Himmelsgöttin Nut, von der man sich vorstellte, dass sie den Toten in ihren Mutterschoß aufnahm. Fast jeder Sarg und jedes Grab in Ägypten enthalten Inschriften, die Nut auffordern, sich als Mutter über ihren Sohn zu breiten, oder in denen Nut selbst dem Toten als ihrem Sohn Schutz und Aufnahme zuspricht.
 
Der Tod wird aber auch in anderer Hinsicht als Heimkehr zum Ursprung gewünscht. Der ideale Ort des Grabes ist der Geburtsort. Im demotischen Mythos vom Sonnenauge lesen wir:
 
»Du fällst auf deine Tenne,
 
du findest deine Sykomore -
 
so spricht Psais zu seinem Liebling.
 
Du stirbst in deinem Dorf, in dem du geboren bist.
 
Du findest dein Begräbnis, du wirst bestattet und gehst zur Ruhe
 
in deinem Sarge, welches deine Sykomore ist, von der er gesprochen hat.«
 
Sein Grab legt der Ägypter also in seiner Heimatstadt an, und in seinem Sarg geht er in die Muttergottheit ein, um sich in ihrem Schoß zu verjüngen. Das Leben formt sich so zur zyklischen Zeit, die ewige Erneuerung verheißt.
 
Nut ist sowohl Mutter- als auch Himmelsgottheit; in Ägypten ist der Himmel weiblich. So lebt der Tote in drei Bereichen weiter: im Himmel, in der Erde und in der Unterwelt, was der Totenkult auf folgende Formel bringt:
 
»... verklärt im Himmel bei Re,
 
machtvoll in der Erde bei Geb
 
und gerechtfertigt in der Unterwelt bei Osiris.«
 
Der Tote will als Lichtseele den Sonnengott Re auf seiner Barkenfahrt begleiten, als Mumienleib oder zaubermächtige Körperseele im Grab ruhen und als Ba in das Reich des Totengottes Osiris eingehen.
 
Dazu tritt im Neuen Reich (ab 1500 v. Chr.) als vierte Dimension die Oberwelt der Lebenden, in die der Tote zurückkehren möchte. Dieser Wunsch wird immer stärker. Für diese Rückkehr möchte er verschiedene Gestalten annehmen. Insbesondere wünscht man sich aber, an den großen Festen des Landes auch nach dem Tod teilzunehmen und zu diesem Zweck aus dem Jenseits zurückkehren zu dürfen, wenn »der Name ausgerufen wird auf der Liste« (der Festteilnehmer):
 
»Möge mein Name gerufen werden, wenn er gefunden wird,
 
an allen Festen, Tag für Tag.«
 
Vermutlich konnte sich, wer zu Lebzeiten zu diesen Festen pilgerte und dabei eine besondere Rolle spielen durfte, in eine solche Liste einschreiben lassen, die seine Festteilnahme für die Ewigkeit sicherstellen sollte. Das Fest wurde auf diese Weise zum Medium eines schon zu Lebzeiten errungenen Vorteils im Jenseits. Es erschließt schon im Diesseits einen jenseitigen Bereich, in den der Tote aus dem Jenseits zurückzukehren hofft. In der Spätzeit werden diese Wünsche kodifiziert im »Buch vom Durchwandeln der Ewigkeit«, das einen regelrechten Festkalender darstellt und dem Toten die Teilnahme an 39 Festen in Theben, 39 in Abydos, 78 in Memphis sowie an weiteren Festen wünscht.
 
Dieses Lehrbuch ist eines der letzten Werke der ägyptischen Totenliteratur und stammt frühestens aus der Saïtenzeit. Die Tradition beginnt im Alten Reich mit der Aufzeichnung der königlichen Totenliturgien in den Pyramiden (ab König Unas, um 2350 v. Chr.). Mit dem Ende des Alten Reichs werden viele dieser Liturgien weiteren Bevölkerungskreisen zugänglich und zusammen mit einer Großzahl neuer Sprüche auf die Innenseite der Holzsärge geschrieben («Sargtexte«). Als Neuheit treten jetzt Spruchtitel hinzu, die die ursprünglichen Kulttexte ausdrücklich für den Gebrauch des Toten umfunktionieren. Im Neuen Reich schreibt man eine Auswahl dieser Sprüche zusammen mit neuen auf Papyrusrollen, die man dem Toten ins Grab mitgibt («Totenbücher«). Die einzelnen Handschriften sind weitgehend individuell zusammengestellt; Bestand und Reihenfolge der Sprüche liegen nicht fest. Dieser Schritt einer Kanonisierung des ägyptischen Totenbuchs wird erst in der Saïtenzeit vollzogen. In der 21. Dynastie (11. - 10. Jahrhundert) entstehen die »mythologischen Papyri«, die neben Texten vor allem hochsymbolische Bildkompositionen enthalten.
 
Der Totenkult oblag dem Erben, in der Regel dem ältesten Sohn, der zu diesem Kult aufgrund seiner besonderen »Herzensbindung« berufen ist. Er vermag sogar beim »Statuenritual« während einer Art Inkubationsschlaf im Traum die Gestalt des Vaters zu schauen und sie für die Bildhauer einzufangen. Als Totenpriester trägt er den Titel »der Sohn, den er liebt« und handelt für den Vater »mit liebendem Herzen«. Eine Formel besagt: »Heilswirksam ist ein Vater für seinen Sohn, heilswirksam ist ein Sohn für seinen Vater.« Vom Toten erhofft sich eine Familie auch vom Jenseits aus Schutz und Hilfe. Man legte ihm einen Brief ins Grab, um ihn zu besänftigen oder zu Hilfe zu rufen.
 
Diese Totenkultkonstellation bildet die Mitte der ägyptische Religion; auch der Götterkult, wonach der König allen Gottheiten als seinen Vätern und Müttern gegenübertritt, ist nach seinem Modell geformt.
 
Prof. Dr. Jan Assmann

Universal-Lexikon. 2012.

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